Menschgemacht
Was für ein Wort „Frieden!“ und was für eine Frage „Geht das?“. In der Geschichte der Menschheit ging es wohl immer irgendwie um Frieden, da es anscheinend auch immer irgendwie um Konflikte sowie gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen uns Menschen ging. In der Wortherkunft (althochdeutsch fridu) steht der Begriff für „Schonung“ und „Freundschaft“, in der Wortbedeutung heute für Ruhe und Stille, für Sicherheit und Geborgenheit, für Einigkeit und Einvernehmen, für Harmonie und Einklang als allgemeinem Zustand zwischen Menschen, sozialen Gruppen oder Staaten. Frieden wird als Ergebnis der Tugend von Friedfertigkeit, auch in Verbindung mit Gerechtigkeit und Friedensbemühungen sowie als Abwesenheit von Gewalt und Krieg verstanden.
In diesem Sinne könnte man Frieden als Abwesenheit, zumindest von menschgemachtem Konflikt und Destruktion in direkter Form, aber auch in kultureller und struktureller Dimension als Abwesenheit von Dominanz, Intoleranz, Diskriminierung, Repression und Ausbeutung und dem daraus resultierenden Schmerz, Leid und Tod im Innen und im Außen beschreiben. Weitere Definitionen deuten Frieden in einer Relation von Gewalt und Gerechtigkeit. Wie ist das aber nun mit der Anwesenheit und der Abwesenheit von menschgemachtem Frieden? Geschieht uns Menschen Frieden einfach oder eben nicht und was haben wir Menschen als einzelne und als soziale Gruppen damit zu tun? Haben wir Einfluss und die Wahl, wenn ja wie? Denn Frieden ist offenbar kein ständiger Zustand, wenn er überhaupt anwesend ist. Womit wir bei der Frage unseres Geistes angekommen sind.
Die Frage, wie uns das Thema Frieden ins Bewusstsein kommt, resultiert aus unserer Sozialisation, unserer Erfahrung und unserem Erleben sowie unserem Interesse in der Wahrnehmung dessen. Dabei geht es um Realitätsbezug vielfältiger Form, ob aus Betroffenheit und Erzählung in unserer Familie und unserem sozialen Umfeld oder aus eigenem Erleben und eigenem Leid. Je weiter entfernt und anonymer uns Konflikte betreffen, umso weniger Wahrnehmung und Bewusstsein hinsichtlich der Bedeutung und Wirkung für das Leben von Menschen entwickeln wir in der Regel. Je näher uns Konflikte betreffen, umso mehr schreckt und schmerzt uns die Not und das Leid, das Menschen in gewalttätigen Auseinandersetzungen und Kriegen erleben.
Bevor wir aber gedanklich tiefer in die mentale Ebene von Frieden und der Frage „Geht das?“ einsteigen, lohnt ein Blick in die Abwesenheit von Frieden und die gewaltige Dimension, wie wir Menschen diese in der Geschichte erfahren haben. Denn, dies kann uns Aufschluss geben, dass wir Menschen wohl Schwierigkeiten haben, aus der Erfahrung der menschgemachten Destruktion, der Not, dem Leid und dem Tod zu lernen und wir uns in Anbetracht dessen, sehr genau anschauen müssen, wo die Wurzeln hierin liegen und ob wir, wenn ja, wie, diese Prozesse in der Zukunft friedlich(er) gestalten können.
Abwesenheit von Frieden
Zu alltäglichen Konflikten und Scharmützeln im Kleinen, kam es in der Geschichte regelmäßig zu immensen Feldzügen und Kriegen zwischen den Völkern mit zunehmender Technologisierung der Waffen, die unermessliche Zerstörung und Leid über die Menschen brachten (Liste von Kriegen in Wikipedia). Zu Beginn des 20igsten Jahrhunderts kam es zwischen 1914 und 1918 zum 1. Weltkrieg, in den maßgeblich die Nationen der 1. Welt mit der bis dahin größten technischen und ökonomischen Kampfkraft involviert waren. Dieser Krieg wurde in Europa, Vorderasien, Ostasien, Afrika und Ozeanien geführt, 40 Staaten waren beteiligt, ca. 70 Mio. Menschen standen unter Waffen, ca. 17 Mio. Menschen verloren ihr Leben.
Angesichts dieser globalen Zerstörungskraft gründete sich 1920 der Völkerbund (GBR, FRA, ITA, JPN, DR, weitere nichtständige Mitglieder) als Ergebnis der Pariser Friedenskonferenz mit dem Ziel Frieden durch Beilegung internationaler Konflikte, Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie einem System der kollektiven Sicherheit dauerhaft zu schaffen. Dies geschah in Analogie zu den Ideen der Aufklärung über Frieden, maßgeblich durch Immanuel Kant´s Werk „Zum ewigen Frieden“ von 1795 und der folgenden Friedensbewegung im 19. Jh. sowie den Haager Friedenskonferenzen zwischen 1899 und 1907. Die ideellen Grundlagen für einen internationalen Frieden waren gelegt. Real ging die Entwicklung in eine andere Richtung. In der Folgezeit gipfelten die politischen Interessen und gesellschaftlichen Prozesse Europas in Egozentrismen und Diktaturen, von denen Hitler-Deutschland die prägnanteste und aggressivste sein und den 2. Weltkrieg (1939 bis 1945) im narzisstisch-rassistischen Wahn und mit imperialem Machtstreben auslösen sollte.
Abermals waren sämtliche Großmächte am Krieg beteiligt, der sich maßgeblich in Europa, im pazifischen Raum und in Afrika abspielte. 60 Staaten waren involviert, mehr als 110 Mio. Menschen trugen Waffen, ca. 80 Mio. Menschen verloren direkt und indirekt ihr Leben. Die technologische Kampfkraft zu Boden, zu Luft und zu Wasser war gegenüber dem 1. Weltkrieg noch verheerender, mit dem bisher massivsten und fatalsten Höhepunkt menschlicher Zerstörung, dem Einsatz der Atombombe in Hiroshima und Nagasaki. Unter diesem größtmöglichen Schock der Kriegswirkung und Desolation (Verwüstung) unternahmen der US-Präsident Roosevelt und der britische Premier Churchill noch während des Krieges die Initiative zu einem neuen Versuch einer Organisation zur Sicherung des internationalen Friedens mit der Atlantik-Charta. Im Januar 1942 vereinigten sich 26 Staaten unter der daraus folgenden Deklaration der Vereinten Nationen.
UN Charta und Menschenrechte
1943 kam es unter Mitwirkung der Sowjetunion und China zur Moskauer Deklaration der Vier Mächte zur Schaffung einer auf dem Prinzip der souveränen Gleichheit aller friedliebenden Staaten aufbauenden Organisation, mit dem Ziel der Aufrechterhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit. Im Juni 1945 kam es nach Einbeziehung von Frankreich in den Kreis der hauptverantwortlichen Mächte zur Fertigstellung der Charta der Vereinten Nationen, die von 51 Staaten unterzeichnet wurde und im Oktober 1945 in Kraft trat.
Nach Artikel 1 der Charta der Vereinten Nationen sind die Hauptaufgaben der UNO:
- die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit
- die Entwicklung besserer, freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen
- die internationale Zusammenarbeit, Lösung globaler Probleme und Förderung der Menschenrechte
- der Mittelpunkt zu sein, an dem die Nationen diese Ziele gemeinsam verhandeln.
1948 wurde die Charta um die Erklärung der Menschenrechte ergänzt:
Art. 1: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“
Art. 3 Recht auf Leben und Freiheit – „Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“
(Wikipedia)
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte besteht aus 30 Artikeln, die grundlegende Ansichten über Rechte enthalten, die jedem Menschen zustehen sollten „ohne Unterschied …“. Die Erklärung hat keinen bindenden Charakter für die aktuell 193 UN-Mitgliedsstaaten, stellt aber eine wichtige Prämisse für die internationale Politik mit einer hohen Implikation (Bezug) für Frieden und Sicherheit zwischen den Menschen und Gesellschaften dar.
Dieser kurze Exkurs in die Geschichte der Auseinandersetzung um Krieg und Frieden im letzten Jahrhundert, zeigt uns über welche Dimension wir sprechen, wenn wir das Wort Frieden in den Mund nehmen. Auch nach der entsetzlichen Vernichtung durch den 2. Weltkrieg und der Gründung der Vereinten Nationen wurden und werden weiter massive Kriege in der Welt und trauriger Weise von den UN-Mitgliedsstaaten geführt: Z. B. Indochina, Korea, Vietnam, Jugoslawien, Afghanistan, Jemen, Irak sowie diverse in Afrika und Asien etc.
Aggression – Bruch zivilisatorischer Entwicklung
Der unglaubliche aggressive Überfall und katastrophale Krieg aktuell durch das Putin-Russland in der Ukraine, lässt uns in Europa das Entsetzen von Krieg ganz nah erscheinen. Der größte europäische Staat und mit USA und China die bedeutendste Militär- und Atommacht, spricht seinem Nachbarstaat mit 44 Mio. Einwohnern seine Identität, Souveränität und Legitimation vollständig ab, bricht das UN-Völkerrecht, zerbombt Städte und Infrastruktur, marschiert ein, tötet Menschen, verübt Kriegsverbrechen, annektiert große Gebiete und geopolitische Zugänge, vertreibt und deportiert Einwohner, delegitimiert ihre Staatsbürgerschaft, nimmt ihnen ihre Existenz, verübt Gewalt an ihnen und zwangskultiviert sie mit russischer Identität.
Plötzlich ist das, was immer andere Menschen außerhalb unseres Erlebens erleiden mussten, ein brutaler Friedensbruch, bar jeder zivilisatorischen Vorstellung, ein Krieg zurück in die imperiale Vorzeit, ganz nah mitten in Europa und unserer Betroffenheitssphäre angekommen. Und, es stellt sich die Frage: Frieden! Geht das?
Woher kommt Frieden?
Wir haben einleitend die Bedeutung des Begriffs Frieden beleuchtet und darin auf die Tugend „Friedfertigkeit“ geblickt, wodurch Frieden wohl zustande kommen kann. Schauen wir uns diesen Begriff genauer an. Wir finden Hinweise darin, die uns für das tiefere Verständnis von Frieden nützlich sein können. Frieden scheint also etwas mit einer Fertigkeit zu tun zu haben, wobei sich die Frage anschließt: Hat man sie oder erwirbt man sie, was genau beinhaltet sie und welche Voraussetzungen erfordert sie? Fertigkeit weist auf absichtsvolles Verhalten und qualitative Handlung hin, in diesem Kontext auf Frieden.
Wie entstehen Verhalten und Handlung, und wie im absichtsvollen und qualitativen Kontext von Frieden? Verfolgen wir die Linie zu dessen Ausgangspunkt. Da ist zum einen, sofern die Fertigkeit nach Außen gerichtet ist, eine mehr oder weniger bewusste Absicht durch Verhalten Einfluss im Außen zu nehmen und einen Zustand durch qualitative Handlung herzustellen. Zum anderen, diese verhaltensbezogene Absicht durch agierende Handlung auszuführen. Ein solches Verhalten kann sich aktiv oder passiv darstellen. Friedfertigkeit kann auch nach Innen gerichtet und sogar Ausgangspunkt für friedvolle Handlung im Außen sein.
Absicht und Handlung müssen gewollt, geplant und gesteuert werden und dies geschieht mental in unserem Gehirn auf Basis neuronaler Prozesse. Diese können aber nicht als rein bewusste und willentliche Vorgänge verstanden werden, wenn man sie in den Spiegel psychologischer und aktueller neurobiologischer Befunde stellt. Vielmehr müssen wir in dieser Betrachtung von einem hohen Anteil unbewusster Prozesse ausgehen, die zudem sozialisationsbedingter konditionaler (geprägter) Motivations-, Denk- und Verhaltensmuster unterliegen sowie von personalen Erfahrungen und daraus resultierenden Emotionen und Gedanken geleitet sind.
Zudem finden mentale Prozesse in Form von Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Handeln nicht isoliert von unserer Umwelt statt. Wir sind über unsere Sinne: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten mit dem Außen durch die Aufnahme von Reizen und Informationen verbunden und stehen darüber in kontinuierlicher Resonanz und Interaktion. Sprich wir reagieren ständig auf unsere Umwelt und agieren ständig in Wechselwirkung in sie hinein. Wir befinden uns somit in einem kontinuierlichen Strom eines dynamischen Austauschs von Innen und Außen durch Aktion und Reaktion sowie der daraus resultierenden Anpassung unserer mentalen und organischen Prozesse an dessen Bedingungen. Auch dieser Resonanzprozess ist uns in der Regel nicht bewusst.
Dies bedeutet, unsere Absichten und Handlungen sind bestimmt von meist unbewussten mentalen Mustern und dynamischen Resonanzprozessen, die wir in der Regel nicht in der Tiefe reflektiert und nicht bewusst durch Aufklärung, Bildung und Praktiken an positive Modelle von Friedfertigkeit angepasst haben. Vielmehr sind wir in unserem mentalen Standardmodus mit diesen Mustern und Resonanzen identifiziert und glauben, dass unser subjektives Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Handeln objektiv, richtig und friedvoll ist. Im Zweifel gehen wir davon aus, dass die anderen falsch denken und handeln und die Verursacher negativer Konsequenzen sind.
Wenn wir also von Friedfertigkeit sprechen, haben wir es nicht mit einfachen bewussten und willentlichen Entscheidungen für oder gegen Frieden und entsprechenden Absichten und Handlungen, sondern mit komplexen neuronalen und mentalen zum hohen Anteil unbewussten Prozessen und Mustern in dynamischer Interaktion mit dem Außen, der Mit- und Umwelt zu tun. Demnach verfügen wir über Friedfertigkeit nicht als Grundausstattung oder verhalten uns nicht einfach friedlich, weil wir es richtig finden, sondern stehen in Bezug auf Frieden maßgeblich in der Wirkung unserer unbewussten Denk- und Verhaltensmuster.
Die Wurzel von Frieden
In der Geschichte der Menschheit und mit Blick auf individuelles Verhalten können wir feststellen, dass es Friedfertigkeit gibt und diese offenbar phasenweise mit dem Ergebnis von relativem Frieden im sozialen Geschehen gelebt wird. Ebenso erfahren wir die Realität von sozialen Konflikten, von Aggression und Gewalt, die sich sogar mit Friedfertigkeit abwechseln kann. Beides scheint als soziales Verhalten in uns als Möglichkeit angelegt zu sein.
Tief in unserem biologischen Programm zur Aufrechterhaltung unseres Überlebens und unserer Fortpflanzung (Homöostase), das primär im Kleinhirn gesteuert wird, sitzt der Antrieb uns vor Gefahren zu schützen, reflexhaft zu flüchten, zu erstarren oder anzugreifen und uns zu wehren oder unsere Ernährung zu sichern und unsere Lebensbedingungen durch Jagd und Kampf zu optimieren. Dafür verfügen wir über die Ressource der Aggression (Bündelung von Kräften zur Abwehr oder zum Angriff). Ebenso tief in unserem biologischen Programm als Sozialwesen ist unser soziales Bedürfnis und unser mentales Interesse der Kooperation verankert, das uns als soziale Wesen erst überlebensfähig macht, da wir als sekundäre Nesthocker (benötigen lange Pflegezeit) von Geburt an auf Empathie und die soziale Fürsorge unserer Eltern und Familie angewiesen sind. Zudem bedeutet soziale Gruppe durch die Bündelung individueller Kräfte im Verbund Schutz vor Gefahren und höhere Leistungsfähigkeit für das Überleben.
Wenn wir Menschen einer Bedrohung für Leib und Leben ausgesetzt sind oder glauben ausgesetzt zu sein, dann werden Stress, Emotionen der Angst und Affekte des Schutzes in unserem Mentalsystem aktiv. Dies geschieht in Bruchteilen von Sekunden in akuten Situationen oder über einen zeitlichen Stressprozess. Dabei werden neuronale Botenstoffe wie Adrenalin und Noradrenalin zur schnellen Aktivierung und Mobilisierung der körperlichen und geistigen Kräfte ausgeschüttet (ready fight or flight Modus). Hält eine Bedrohungs- oder Stresssituation länger an (10 – 15 Min.) übernimmt das Stresshormon Cortisol die Aufgabe, unser System für einen längeren Zeitraum leistungsfähig zu machen.
In diesem Kontext steht uns die Ressource der Aggression zur Bewältigung der Stresssituation zur Verfügung, die mit starken Emotionen von Angst und Wut besetzt sein sowie mit Empathieverlust und Haltungen der Ablehnung und Feindseligkeit (Hass) gegenüber anderen einhergehen kann. Aggression kann im Affekt reaktiv freigesetzt werden, aber auch in Verbindung mit negativen Einstellungen und Haltungen gegenüber Menschen und sozialen Gruppen als aggressionsgrundierte Haltung, als stimulative Verhaltensform (durch bestimmte Reize und Situationen), bis hin zur offenen aktiven Destruktion sozial dysfunktional auftreten. Hass und Wahn liegen dabei eng beieinander. Gewalt und Krieg wirken auf Basis des menschlichen Aggressionspotentials und können durch Indoktrination und Ideologisierung mit Desinformation und Propaganda instruiert, manipuliert und fremdgesteuert werden, was historisch kontinuierlich im Kleinen und im Großen geschah und gegenwärtig weltweit geschieht.
Ähnlich sieht es mit unserem sozialen Bedürfnis aus. Die Integration in sozialen Gruppen bedeutet für uns als Individuum Schutz, Sicherheit, Fürsorge und Fortpflanzung. Dieses motivationale Grundbedürfnis wird ebenso in unserem biologischen Programm, wofür ein komplexes Netzwerk neuronaler Areale in unserem Gehirn zuständig ist, entsprechend seiner hohen Bedeutung, affektbezogen gesteuert und durch neuronale Botenstoffe unterstützt. Allen voran mit Oxytocin, bekannt als Kuschel-, Bindungs-, Mutter-Kind- und Glückshormon, das unser Wohlbefinden durch soziale Interaktion stützt und steigert. Des Weiteren durch Serotonin und endogene Opiate die Entspannung und das Gefühl der Belohnung fördern. Soziale Nähe, positives Miteinander und insbesondere Berührung stimulieren unsere mentalen Prozesse enorm und fördern so biochemisch gestützt unser Wohlergehen. Das Fehlen dessen sowie Ablehnung, Abwertung, Ausgrenzung und Gewalt durch andere Menschen, treffen uns zutiefst in unserer mentalen und physischen Verfassung. In diesem Kontext ist Frieden eine unabdingbare Voraussetzung für das Wohl von uns Menschen.
Soziale Integration und Anerkennung haben insofern existenzielle Bedeutung. Dabei spielen die soziale Identität und Empathie eine wesentliche verbindende Rolle, um in einer sozialen Gruppe Schutz und Fürsorge zu erhalten. Soziale Identität basiert generell auf den kulturellen sozial konstruierten Inhalten (Bedeutungskontexte) sozialer Gruppen und Gesellschaften. Sie bildet sich insbesondere durch die Herkunft in der Gruppe, durch dessen kulturelle und politische Identitätsmerkmale oder durch migrierende soziale und kulturelle Akzeptanz und Sozialisation. Soziale Identität verknüpft sich mit tiefen und frühen Beziehungserfahrungen der Mutter-Kind- (Diade), der Eltern-Kind- (Triade) und der sozialen Gruppenbeziehung (Familie/Freunde/Gesellschaft). Identitätsdifferenzen und –konflikte führen in der Regel zu sozialer Ablehnung, Ausgrenzung und Aggression, bis hin zum Empathieverlust, Entmenschlichung, Feindseligkeit und Gewalt gegenüber vermeintlich identitätsfremden Individuen.
Soziale Identität und das Bedürfnis nach sozialer Integration und Kooperation korreliert (einhergehen) mit unserem basalen (grundlegend) neuronalen Selbstprozess zur Steuerung und Erhaltung unseres biologischen Selbst (Organismus) und dem darin arbeitenden mentalen Selbstbezug, worin auch unsere Selbstbestimmung verankert ist. Dieser Selbstbezug (Egozentrik) ist gekoppelt mit unseren sozialen Funktionen, der Resonanz, Empathie und Kooperation sowie der Ausbildung der personalen Perspektiven des ICH-DU-Wir, die sich nachgeburtlich über die Kindheit entwickeln und unsere soziale Kompetenz bilden. Dieser soziale Entwicklungsprozess ist biologisch vorprogrammiert, bildet sich aber in der individuellen Entwicklungssituation des Einzelnen aus. Entsprechend formt sich das Verhältnis von Selbstbezug und sozialer Kompetenz in einer Skalierung von sozialer Achtsamkeit und Empathie zu Egozentrik.
Unser soziales Bedürfnis manifestiert sich demnach über die Sozialisation in der Form von mehr oder weniger Egozentrik und sozialer Kompetenz. Mit einer dominanten Ausprägung der Egozentrik, die in der Regel mit Empathieverlust einhergeht und die Bedürfnisse der Anderen nicht wahrnimmt und berücksichtigt, kann sich auch die antisoziale Haltung des Egoismus entwickeln, der in übergriffiger Weise die Interessen der Anderen übergeht und den eigenen Vorteil zum Schaden der Anderen verfolgt und durchsetzt. Insofern haben Egozentrik und Egoismus eine hohe Implikation (Folgerung) auf die Entwicklung der Kompetenz von Friedfertigkeit.
Wie Aggression kann soziale Identität und damit unser soziales Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Schutz in der Gruppe durch Indoktrination und Ideologisierung mit verhetzenden fremdenfeindlichen Inhalten sozialer, kultureller und politischer Färbung instruiert, instrumentalisiert, manipuliert und fremdgesteuert werden. Wie wir in der Geschichte und in der Gegenwart nachvollziehen können, äußert sich diese mentale Beeinflussung in Ablehnung, Abwertung, Ausgrenzung und Feindseligkeit zwischen den identitätsbezogenen Gruppen und kann sich affektiv und emotional entzünden und so in gewaltsame Auseinandersetzungen und Kriege münden.
Die affektbezogenen biologischen Programme Aggression und Soziales Bedürfnis, die im Prinzip zum Schutz unseres Lebens angelegt sind, werden durch die kognitionsbezogene Kontrolle (prüfendes und abwägendes Denken/Top-Down-Control) gesteuert. Auftretende Affekte (Antrieb), die sich zu Handlungsimpulsen entwickeln, werden vor ihrer Ausführung in Bezug auf ihre Relevanz (Angemessenheit) zur Situation und den daraus resultierenden Konsequenzen geprüft und gegebenenfalls gehemmt. Diese Funktion der Impulskontrolle, die innerhalb der größeren Funktion der Selbststeuerung angelegt ist, wird in der Sozialisation durch Imitation des Verhaltens der Gesellschaft implizit (unbewusst enthalten) geprägt und kann durch explizites (bewusst erzeugt) Lernen und Üben kultiviert werden.
Aggression und Soziales Bedürfnis korrelieren (Zusammenhang) als biologische Programme des tiefen mentalen Affektbereichs im Zusammenspiel der höheren mentalen Funktionsebenen Emotion (Fühlen/Motivation) und Kognition (Denken/Steuern) mit der Fähigkeit Friedfertigkeit und bilden so die Wurzel für Frieden. Je nach Lebensbedingungen formieren sie ihre Ausprägung und ihren Ausdruck, und je nach konditionaler (prägen) Denk- und Verhaltensmuster sowie reflektiver (prüfen) mentaler Wahrnehmungs-, Differenzierungs-, Steuerungs-, Kooperations- und Lösungskompetenz werden sie in der Lebenswirklichkeit ausgelebt. Friedfertigkeit und der daraus resultierende Frieden ist somit eine Frage kulturell und personal bedingter mentaler Entwicklung und Kompetenz im reflektiven Umgang mit unseren Affekten und Emotionen.
Friedfertigkeit als Möglichkeit
Friedfertigkeit ist demnach keine Eigenschaft mit der wir Menschen per se ausgestattet sind oder über die wir eine Entscheidung treffen können, vielmehr stellt es eine mentale Möglichkeit dar, die sich auf unsere biologischen Programme, unsere sozialisierten Denk- und Verhaltensmuster, unsere biografischen Erfahrungen sowie unsere emotionalen und kognitiven Ressourcen der Empathie und der Reflexion beziehen, deren Prozesse zum Großteil unbewusst und automatisiert ablaufen.
Zudem kommt in Gesellschaften sozial konstruierten und kulturell etablierten Verständigungs- und Konfliktlösungsstrategien im Kontext von Friedfertigkeit eine hohe Bedeutung zu, sofern sich solche auf einer gesellschaftlich relevanten Ebene überhaupt entwickeln konnten. Denn die individuellen mentalen Denk- und Verhaltensmuster bilden sich in der Resonanz und in Adaption mit den in sozialen Gruppen zirkulierenden kulturellen Bedeutungen und Strategien. Somit beinhaltet die Ausprägung individueller Friedfertigkeit eine starke kulturelle und soziale Komponente, die sich in den mentalen Prozessen des einzelnen manifestiert.
Natürlich können einzelne Menschen oder soziale Gruppen gelöst vom gesellschaftlichen Niveau ein hohes Maß an Friedfertigkeit mit friedensbildender Wirkung durch individuelle Eigenschaften, Neigungen, Empathie und Ethik entwickeln. Dies erfordert Aufklärung, Bildung, Verantwortung und Disziplin in schwierigen Situationen. Hinzu kommt die Frage nach der Qualität von Friedfertigkeit in der subjektiven Perspektive: Was ist Friedfertigkeit, was sind die objektiven Kriterien und was ist die Referenz? Wenn ich glaube friedfertig zu sein, bin ich es dann auch?
Auch die Frage der Übertragung von Friedfertigkeit auf andere Menschen ist nicht trivial. Friedfertige Absicht in Form einer Haltung und friedfertige Handlung überträgt sich zwar mental durch soziale Resonanz, allerdings als unbewusster Prozess und in bedingter Ausprägung. Wenn Friedfertigkeit eine mentale Möglichkeit ist, die ich bewusst und reflektiert zur Kompetenz entwickeln kann, wie kann wirksame Aufklärung und Bildung hierzu gestaltet sein?
Was ist, wenn Meinungsverschiedenheit, Auseinandersetzung und Konflikt oder Machtinteressen emotional eskalieren und in Aggression, Gewalt und Krieg münden? Es gibt situative Verständigungs- und Deeskalationsstrategien, die aber nur dann funktionieren, wenn die Beteiligten mental im Sinne von Friedfertigkeit dazu noch in der Lage oder durch Intervention (Einwirkung) von Außen erreichbar sind. Schwieriger ist es willentlicher Machtausübung, Aggression und Gewalt, die sich bewusst über den Respekt vor Leben und Menschenrechte hinwegsetzt, die absichtsbezogen verletzt, zerstört und tötet, mit Friedfertigkeit zu begegnen.
In der Geschichte gab es teils machtvolle Glaubensformen, Philosophien und Ethiken, die Aggression und Gewalt mit Friedfertigkeit begegneten und deren Ausübung Aggressoren beeindrucken und stoppen sollten und dies, allerdings häufig verbunden mit großem Leid und Tot der Friedvollen, unter Umständen erreichen konnten. Eine andere Strategie ist Gegenwehr, sofern diese Option machtvoll genug ist, um den Aggressor zu beeindrucken.
Die beste Lösung gegen willentliche Aggression ist, wenn sie keine Macht bekommt, insbesondere keine politische Macht und dann sprechen wir von Friedfertigkeit als Möglichkeit, die wir als einzelne und bestenfalls als gesamte Gesellschaft in unserem Mentalsystem entwickeln können, um immun gegen Manipulation und Indoktrination durch Populisten und deren identitäre und imperiale (großmächtig, einnehmend) Ideologien (Weltanschauung) und Narrative (Erzählungen) zu sein. Dies schützt vor der Versuchung menschenfeindlichen Ideen in irriger Weise unreflektiert zu folgen.
Die neurobiologische Anlage hierzu haben wir. Unsere mentalen Denk- und Verhaltensprogramme auf denen Friedfertigkeit basiert, sind plastizitär (nicht festgelegt und lernfähig) angelegt. Sie entwickeln sich auf Basis kultureller Bedeutungen, Konzepten und Strategien, die über Sozialisation, über individuelle Erfahrungen sowie persönliche Voraussetzungen und Perspektiven und, ganz wichtig über Aufklärung, Bildung und praktische Übung grundlegend in der Kindheit und ein Leben lang geprägt werden.
Das Ideal Frieden
Frieden, die Abwesenheit von destruktiver Auseinandersetzung, Gewalt und Krieg taucht in der Geistesgeschichte von uns Menschen als Gedanke auf, der meist in Verbindung mit Harmonie, Freundschaft, Einigkeit und Sicherheit verstanden wurde. Dieser Gedanke kam in Anbetracht der Feststellung auf, dass Frieden keine Selbstverständlichkeit unter den Menschen, sozialen Gruppen und Gesellschaften war, Gewalt und dessen Leid aber anhielt. Mit der Vorstellung, dass Frieden ein wünschenswerter Zustand sei, nicht aber gegenwärtige Realität, entwickelten sich in den Weltbildern ethische Ideen, die sich zu philosophischen Theorien und Idealen ausformten sowie rechtliche Prinzipien, Regeln, Vereinbarungen und Gesetzte zur Verwirklichung von Frieden.
In unserer jüngeren Geschichte kam es zu einem epochalen Friedensschluss, dem Westfälischen Frieden von 1648, der den Dreißigjährigen Krieg beendete und dem ein jahrelanger internationaler Friedenskongress an unterschiedlichen Orten vorausging. Dabei wurden umfangreiche Friedensverträge zwischen den Kriegsparteien auf Basis der Gleichberechtigung der Staaten, unabhängig von ihrer Macht, ausgehandelt, die gleichzeitig als staatliches Grundgesetz behandelt und aufgenommen wurden. Dieser erste internationale Friedensschluss, der damals mächtigsten europäischen Staaten, wirkte stabilisierend auf die politischen Verhältnisse in Europa ein und diente als Vorlage für spätere Friedensverhandlungen, bis hinein ins 19. Jahrhundert.
Die philosophischen und politischen Ideen sowie Bestrebungen zur Friedensbildung entwickelten sich durch Vertreter wie Thomas Hobbes (engl. Philosoph) um 1650, der gleiches Recht der Bürger, unabhängig ihrer Macht und zu ihrem Schutze forderte. Immanuel Kant formulierte den kategorischen Imperativ „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“, der die Grundlage zu seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795) bildete, die schließlich als Vorlage für den späteren Völkerbund (1919) und die Vereinten Nationen (1947) dienen sollte.
Die Idee von Frieden reift aber schon 400 v Chr im antiken Griechenland, um den Frieden als den Normalzustand durch völkerrechtlich verbindliche Verträge dauerhaft zu sichern. Im 10 Jh n Chr entstand in Reaktion auf das Fehdewesen des niederen Feudaladels im Süden Frankreichs die Gottesfriedensbewegung, die aufgrund der Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten als Vorläufer der modernen Friedensbewegungen gelten kann. Seit 1900 spricht man von einer internationalen Friedensbewegung, die sich ab dem frühen 19. Jh mit dem Liberalismus als demokratische Reformbewegung in Europa und USA gebildet haben.
In diesem Zusammenhang taucht auch der Begriff des Pazifismus auf, der sich in einer ethischen Grundhaltung gegen jede Form der Gewalt als politisches Mittel auszeichnet und auch Verteidigungskriege ablehnt. Teile der Friedensbewegung wollen Kriegsgefahren durch Entspannungspolitik und völkerrechtliche Verträge verringern und verhindern, ohne Selbstverteidigung und Rüstung prinzipiell abzulehnen. Nach dem 1. Weltkrieg gewann die Friedensbewegung eine Massenbasis, wirkte über Appelle und Vorschläge an die Politik und versuchte über Friedensmärsche und Friedensaktionen gegen Militarisierung und Aufrüstung die Idee von Frieden in die Gesellschaften zu tragen und durchzusetzen.
Mit der Aufrüstung der NATO und des Warschauer Pakts nach dem 2. Weltkrieg durch Atomwaffen formierte sich die Friedensbewegung, die während der Kriegszeit verfolgt und eliminiert wurde neu und schuf unter anderem die jährlichen Ostermärsche als breite Demonstrationsform. In der Folge weiterer Kriege, wie der Vietnam Krieg sowie Beschlüsse zur Aufrüstung, wie der NATO Doppelbeschluss zur atomaren Abschreckung in Europa, gewann die Friedensbewegung jeweils starke Präsenz und breite Unterstützung in der Gesellschaft gegen Gewalt und Krieg als politisches Mittel, gegen Aufrüstung und für andere nichtmilitärische Sicherheitskonzepte und atomare Abrüstung.
Bis heute wird international aufgerüstet, die Welt starrt vor Waffen und erstarrt vor Gewalt, Terror und Krieg. Wir Menschen haben zwar verstanden, dass Aggression und Gewalt Unheil, Leid, Zerstörung und Tot bringen und Konflikte eskalieren, statt sich zu lösen, weshalb sich in unserer Geistesgeschichte das Ideal Frieden und daraus die Friedensbewegung entwickelt hat. Aber, offensichtlich haben wir noch nicht hinreichend verstanden, dass Frieden als rationales Ideal oder gar in der Ausprägung einer Friedensideologie, noch nicht den Frieden als internationale nachhaltige Gesellschaftsform hervorbringen kann.
Eine Idee ist noch keine Fähigkeit, nicht des Einzelnen, noch nicht einmal der Ideengeber und -träger selbst und schon gar nicht in der Verbreitung in sozialen Gruppen oder Gesellschaften. Die Fähigkeit, hier zum Frieden, kann sich über eine Idee entwickeln und ausbreiten, aber häufig entsteht mit der Identifikation der Idee, die Illusion der Fähigkeit, noch bevor diese hinreichend entwickelt und ausgereift ist. Und, mit der Illusion der Fähigkeit zum Frieden können sich Friedensideologien und darüber der Glaube herausbilden, Frieden durch Verhaltensmodelle, politische Programme und Verträge nachhaltig herstellen zu können.
Friedfertigkeit ist, wie wir bereits in die Betrachtung genommen haben, mental mit unseren biologischen Programmen der Aggression und des sozialen Bedürfnisses (Identität, Bindung) sowie unseren sozialisierten Denkmustern (Frames) verknüpft, die sich in interaktionaler Resonanz mit der eigenen sozialen Gruppe, der In-Group und den „Anderen“, der Out-Group dynamisch formen und ausdrücken. Hierbei können Störungen und Konflikte auftreten, die sich entweder durch Regulation der Emotionen und Gedanken entstören und entspannen lassen oder in Gewalt eskalieren. Frieden und explizit die Friedfertigkeit bedarf der Fähigkeit die eigenen mentalen Prozesse: Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Handeln zu reflektieren, zu regulieren und zu modulieren und damit auch die der Anderen positiv in Resonanz zu inspirieren.
Friedensideale und -ideologien ohne die entwickelte mentale Kompetenz der Friedfertigkeit münden in den Glauben an den Erfolg der Friedensabsicht und deren Durchsetzung durch Vehemenz: „Wenn alle an den Frieden glauben, wird er real“. Glaube und dessen Vehemenz kann aber auch „blind“ machen und die dynamische Antizipation (Erkennen) der individuellen Bedingungen sowie die Adaptionsfähigkeit (Anpassung) für situativ relevante und undogmatische Lösungen behindern oder sogar verhindern. Friedfertigkeit ist eine „wache“ mentale Qualität selbstreflektiv und achtsam in konkreten Situationen des Umgangs mit Aggression und Gewalt sowie dem Schutz des eigenen Lebens, agil und respektvoll im Umgang mit dem Aggressor, intelligent in der Entwicklung von Frieden.
Frieden ist voraussetzungsreich
Wenn auf politischer Ebene von Frieden gesprochen wird, geht es häufig um die Fragen von Konfliktlösung durch Verhandlungen, Sicherheitskonzepten, Verteidigungsstärken, Abschreckungen etc. meist weniger um tatsächlichen Frieden. Warum? Auf dieser Ebene vollzieht sich die Möglichkeit von Frieden auf Basis der gesellschaftlich vorhandenen Dimension (Ausprägung) von Friedfertigkeit und letztlich der Fähigkeit der Einzelnen dessen. Das heißt: Politik, zumindest demokratische, kann nur auf der politischen Möglichkeit von Friedensbildung agieren, die die Gesellschaften national und international auch in ihrer mental entwickelten und verfügbaren Kompetenz Friedfertigkeit bieten.
Wir sind uns häufig nicht darüber bewusst, dass demokratische Politik in der Gesellschaft nur die mentalen Kompetenzen fordern und unterstützen kann, die in der Breite der Gesellschaft entwickelt sind. Schauen wir auf das Thema Klimaschutz. Das Problem CO2 ist seit 40 Jahren bekannt. Klimaschutz als politisches Programm konnte sich bis heute nicht in relevanter Dimension im demokratischen Prozess durchsetzen. Bietet eine Partei ein relevantes Programm zur ökologischen, sozialen und ökonomischen Transformation an, kommt eine andere Partei und diskreditiert oder diffamiert dieses mit populistischen Mitteln in der Bevölkerung und bestätigt die vorhandenen Einstellungen und Weltbilder, die „ein weiter so“ bedeuten und gewinnen damit Stimmen und politische Macht.
Dass eine solche politische Intention mit hoher Wahrscheinlichkeit gegen das Wohl der Menschen gerichtet ist, nehmen die politischen Protagonisten in ihrem Machtinteresse billigend in Kauf. Deren Follower in der Bevölkerung fühlen sich in ihren Einstellungen und Gewohnheiten, die sie natürlich ohne die gebotene Einsicht nicht ändern wollen, durch das bestätigende politische Angebot in ihrer subjektiven Wirklichkeitskonstruktion und ihrem „bitte weiter so“ verstanden und adäquat in ihren Interessen vertreten. Dieses Phänomen sehen wir auch in der aktuellen Situation und der politischen Frage, wie auf den Putin-Krieg gegen die Ukraine reagieren, und sollen wir die Ukraine in ihrem Verteidigungskrieg mit Waffen unterstützen?
Abgesehen von der Frage, ob ein Verteidigungskrieg mit Friedfertigkeit vereinbar ist, sind wir dann wieder bei dem Thema mentale Kompetenz Friedfertigkeit, die sich in einem kulturellen Prozess wechselseitiger Dynamik des Einzelnen mit der Gesellschaft entwickelt. Was heißt das? Der Einzelne wird in der Kultur seiner Gesellschaft mit mehr oder weniger Friedfertigkeit sozialisiert und reproduziert (wiederholt) diese in seinen Denk- und Verhaltensmustern, vorbehaltlich seines individuellen reflektiven Entwicklungspotentials.
In der gesellschaftlichen Kultur zirkulieren Bedeutungen und Narrative (Erzählungen) über die „Anderen“, die nicht identitär zur eigenen sozialen Gruppe und Gesellschaft zählen und ggf. als Gegner verstanden und vielleicht sogar in Handlungen erlebt werden. Da dies auf die „Anderen“ ebenfalls zutrifft, gibt es Gegnerschaften, die sich in Feindschaften steigern können, woraus Konflikte und Gewalt entstehen können. Um zu verhindern, dass die „Anderen“ als Gegner verstanden werden, muss nun der Einzelne, der die Vorstellung der Gegnerschaft in seiner Sozialisation aufgenommen hat, diese wieder dekonstruieren (auflösen).
Dazu muss der Einzelne ein hohes Maß an Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion sowie mentale Autonomie entwickeln. Er muss erkennen, dass er die „Anderen“ als Gegner versteht und er muss reflektieren, dass dies vielleicht ein Fehlschluss ist, der gesellschaftlich so verstanden und weitergegeben wird, aber nicht praktikabel für Frieden ist. Er muss in seinem Denken die Gegnerschaft durchbrechen und eine neue Definition seines Verhältnisses zu den „Anderen“ finden, um einen Beitrag zum Frieden leisten zu können. Dieser Prozess des Reframings (Umdeutung) geschieht so im Einzelnen und geht wiederum in Resonanz mit der Gesellschaft.
Die Politik formiert sich auf Basis des Denkens der Einzelnen als gesellschaftlicher Prozess. Wenn viele Einzelne Friedfertigkeit in ihren mentalen Prozessen: Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln entwickeln können, ggf. dadurch sogar die kulturellen Bedeutungen und Narrative, die in der Gesellschaft zu Friedfertigkeit zirkulieren, reframen (verändern) können, dann besteht die Möglichkeit, dass sich Friedfertigkeit in der politischen Dimension spiegelt, vorausgesetzt einer liberalen Demokratie, in der die Einzelnen in Partizipation freier Meinungsbildung und –äußerung sowie in freien Wahlen die Politik entscheiden.
Die Medien als 4. Kraft spielen im mentalen Prozess des Fühlens und Denkens und damit in der Meinungsbildung eine zentrale Rolle, denn die mentalen Prozesse der Einzelnen sind subjektiv und „relativ“ suggestiv (beeinflussbar). Auch in Demokratien wirken Medien intentional (absichtsvoll) im Zweifel mit einer politischen Agenda oder einfach nur im Interesse an der Aufmerksamkeit ihrer Nutzer über Erregungstrigger und Sensationsberichte, wodurch sie das Fühlen, Denken und Handeln der Einzelnen beeinflussen. In Autokratien und Diktaturen sieht Meinungsbildung dann noch einmal ganz anders aus, schlicht durch Desinformation, Indoktrination und Meinungszwang. Davon abgesehen können Gesellschaften auch so manipuliert werden, dass sie Autokratien wählen und Diktaturen unterstützen.
Frieden ist voraussetzungsreich deshalb, weil der Einzelne in seiner mentalen Verfassung, die sich grundsätzlich konditional (Sozialisation), subjektiv (Konstruktivität des Denkens) und suggestibel (beeinflussbar und fiktiv) darstellt, im Rahmen seiner kulturellen Bedingungen erst seine mentale Kompetenz zur Friedfertigkeit entwickeln muss. Es braucht dann viele Einzelne in der Gesellschaft, die ihre individuelle Friedfertigkeit im kulturellen und damit politischen Kontext der Gesellschaft potenzieren, um sozusagen eine Friedenskultur zu prägen, die die Kraft hat, Frieden zu verwirklichen.
Ganz praktisch gesehen: Was hat aktuell ein ganz „normaler“ Bürger in der Ukraine, der seinem Leben nachgeht, mit einem Bürger in Russland zu tun, der ebenfalls seinem Leben nachgeht? Erst einmal wenig. Man könnte nun konstruieren: In der Verknüpfung von wirtschaftlichen und nationalen Interessen beider Länder, sind beide Bürger von den politischen Entscheidungen betroffen. Direkt haben sie aber nichts miteinander zu tun. Als Bürger ihrer Länder, mehr oder weniger dazu verpflichtet und mehr oder weniger in der Identifikation mit den Interessen ihrer Länder, stehen sie sich aber plötzlich im Kriegskampf gegenüber und betrachten sich als Feinde.
Der Anlass in dieser Konstruktion ist eine nationalistische imperiale Aggression des Putin-Regimes und die Identifikation der Gegnerschaft ist von russischer Seite medial induziert (verabreicht). Selbst, wenn diese beiden Bürger ihre Situation so reflektieren, haben sie in diesem Moment als Einzelne keine Wahl sich aus der Lage zu befreien. Wenn aber in den Gesellschaften viele Einzelne ihre sozialisierte und medial induzierte Identifikation mit nationalen Interessen und Gegnerschaften reframen und ihre Kompetenz Friedfertigkeit entwickeln und in Resonanz bringen, erhöht sich, zumindest in demokratischen Gesellschaften, der Abbau von Gegnerschaft und die Möglichkeit von Frieden.
In Autokratien und Diktaturen ermöglicht sich dieser gesellschaftliche Entwicklungsprozess von Friedfertigkeit nicht in gleicher Weise, da das politische Regime Gegnerschaft als ideologisches Mittel einsetzt, um seine aggressiven imperialistischen Ziele verfolgen zu können. Sie instrumentalisieren die grundsätzliche Subjektivität und Suggestibilität unseres menschlichen Mentalsystems zur Fremdbestimmung und –steuerung ihrer narzisstischen Fantasien, politischen Zwecke und ihres Machtstrebens.
Frieden als Ideal kann die Voraussetzung für die Entwicklung der mentalen Kompetenz von Friedfertigkeit sein, da es eine Vision ein imaginäres Ziel repräsentiert, als rationales Ideal ohne tiefem (Transformation) mentalen Prozess der Selbstreflexion und der Dekonstruktion kulturell konditionierter identitär basierter Gegnerschaft und dem Framing friedfertiger positiver sozialer Einstellung gegenüber den „Anderen“, wird sich Frieden kaum verwirklichen lassen. Gleichzeitig ist dieser Prozess vice versa (umgekehrt) zu verstehen: Die „Anderen“ müssen auch Friedfertigkeit entwickeln. Geschieht dies nicht, kann Frieden sich nicht etablieren.
Frieden
Womit wir wieder bei der Frage „Frieden! Geht das?“ wären. Wenn also Einzelne: Personen, soziale Gruppen und Gesellschaften sich für die Entwicklung der mentalen Kompetenz Friedfertigkeit entscheiden und dazu auch Mentale Bildung kreieren und eine Friedenskultur ermöglichen, dann stellt sich die Frage, wie geht man mit den „Anderen“: Personen, sozialen Gruppen und Gesellschaften um, die das nicht tun, evtl. sogar identitäre und imperialistische Aggression in ihrer Kultur implizieren (beinhalten) und offen zum Ausdruck bringen, wie wir das derzeit mit dem Putin-Regime erleben?
Jeder Einzelne hat in seinem Mentalsystem die Möglichkeit zur Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion und Selbstmodulation und kann seine mentale Kompetenz der Friedfertigkeit entwickeln, aber nicht jeder hat automatisch den inneren Impuls und die reflektive Orientierung in der Entwicklung seiner Kompetenz dazu. Hilfreich ist ein Anlass zur Aktivierung der Möglichkeit. Dieser kann sich in der Sozialisation als kultureller Wert vermitteln, durch Informationen, die von irgendwo im Außen aufgeschnappt werden z. B. durch diesen Beitrag oder schlicht durch einen inneren geistigen Impuls der Erkenntnis. Dieser Prozess könnte durch Mentale Bildung, die uns über unser Mentalsystem und seine Prozesse aufklärt und mit Übungen unterstützt, im gesellschaftlichen Interesse gezielt gefördert werden.
In der praktischen Entwicklung der Kompetenz Friedfertigkeit ist es wichtig die eigene Selbstwahrnehmung der tiefen in uns geprägten Denkmuster (Vorstellungen und Einstellungen) von Frieden zu identifizieren, denn diese tiefen „Konzepte“ leiten unser Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln. Die Selbstwahrnehmung unserer tiefen „Konzepte“ erfordert einen Prozess der Entwicklung dieser Innenschau (Introspektion), denn diese uns leitenden mentalen Inhalte sind im „Unbewussten“ verankert, lassen sich aber mit zunehmender Praxis der Innenschau erhellen.
In der Identifizierung unserer „Konzepte“ können wir reflektieren, ob sie die einzige Möglichkeit des Verständnisses der Welt darstellen oder, ob es z. B. noch andere Perspektiven und Werte gibt. Dieser Prozess wird als Erweiterung (Kontextualisierung) unserer Bedeutungen und Sinnzusammenhänge (Frames) in unserem Denken verstanden. Dann können wir prüfen, welche Affekte und kulturell erworbenen Verhaltensmuster an unsere „Konzepte“ geknüpft sind, die in konkreten Situationen automatisiert und unbewusst aktiv werden und darüber die immer selben Ergebnisse unseres Verhaltens reproduzieren. Entsprechend können wir nach alternativen, für die Friedensbildung funktionalere Verhaltensmodelle und -konzepte suchen oder neu entwickeln und adaptieren (übernehmen).
Nach der Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion folgt die Selbstmodulation. Wir müssen dann die bisherigen Denk- und Verhaltensmuster mit neuen Formen, Modellen und Konzepten aktualisieren und durch Wiederholung einüben. In der Folge müssen wir mit hoher Aufmerksamkeit in konkreten Situationen, in denen unsere Friedfertigkeit gefordert ist, wahrnehmen, welche Muster aktiv werden, die „Alten“ oder die „Neuen“ und Strategien finden, wie wir in der Praxis die „Neuen“ durch Wiederholung festigen und stärken. Das sind je nach Voraussetzung der tiefen Konditionierung (Prägung) unserer „Konzepte“ und der etwaigen Unterstützung und Bildungsangebote von Außen, durchaus sehr intensive und langwierige Modulierungsprozesse.
Das sind je nach Voraussetzung der tiefen Konditionierung (Prägung) unserer „Konzepte“ und der etwaigen Unterstützung und Bildungsangebote von Außen, durchaus sehr intensive und langwierige Modulierungsprozesse. Zudem, auf Grund unserer mentalen Subjektivität können wir im Verlauf der Introspektions-, Reflexions- und Modulationsprozesse meist nur bedingt die Qualität in unserer Kompetenzentwicklung Friedfertigkeit selbst einschätzen. Was ist die Referenzgröße der objektiven Qualität, an der wir uns in unserem subjektiven mentalen Prozess orientieren können? Darin unterstützt uns das Bewusstsein über unsere mentale Subjektivität und die damit verbundene Konstruktivität (Mutmaßung/Hypothese) unseres Denkens und das kontinuierliche Hinterfragen. Ist mein Status von Friedfertigkeit, mein Denken, meine Haltung und mein Verhalten bereits hinreichend friedfertig?
Natürlicherweise orientieren wir uns dabei in mentaler Resonanz am Prozess unserer sozialen Umgebung. Welches Denken, welche Haltung und welches Verhalten zeigen meine Mitmenschen und was sagt mir das, wie inspiriert dies meinen Prozess etc.? Modulationen tiefer konditionaler (geprägter) mentaler Konzepte, die im Unbewussten durch Sozialisation verankert sind, erfordern eine hohe motivationale Bereitschaft hinzuschauen und hinschauen zu wollen und den Veränderungsprozess bestehender Denk- und Verhaltensmuster einzuüben und zu verfestigen. Je breiter und gleichzeitiger dieser Prozess in einer gesellschaftlichen Entwicklung geschieht, umso leichter fällt er uns als Einzelne. Wichtig ist die Initiation, der Anfang des Prozesses.
Wenn wir unsere Friedfertigkeit in unserem Geist entwickeln und entwickelt haben, können wir versuchen diese anderen mitzuteilen und uns vielleicht sogar für Mentale Bildung diesbezüglich engagieren. Zudem, Frieden ist die Summe der Friedfertigkeit aller Menschen. Und, wir haben auf gesellschaftlicher Ebene die Option, in unserer politischen Haltung und mit unserer politischen Stimme, die politischen Kräfte zu unterstützen, die sich für Gemeinwohl und Friedensbildung einsetzen.
Friedfertigkeit und Friedensbildung heißt dabei nicht Naivität in Konflikten, Gegnerschaft und Aggression und nicht, sich für das Ideal Frieden zu „opfern“. Vielmehr kann der Einzelne friedvoll wirken, wenn er in der Lage ist, seine Emotionen und Gedanken zu regulieren und positiv auszurichten, Störungen und Konflikte zu entspannen sowie sich und andere vor Aggression respekt– und maßvoll zu schützen und für die Entwicklung der mentalen Kompetenz Friedfertigkeit in der Gesellschaft einzutreten.
Aggression, Gewalt und Krieg im Kleinen und im Großen sowie Hass, Hetze und gesellschaftliche Spaltung durch ideologischen und narzisstischen Populismus und Verblendung von Menschen geschieht in unserem menschlichen Geist als Möglichkeit. Meist steht dahinter eine emotionale und soziale Dysfunktion des Mentalsystems der populistischen Protagonisten, die ihr dissoziales, menschenfeindliches Dominanz- und Machtstreben mit ihrer manipulativen Intelligenz ausleben und Menschen in ihren Bann ziehen können. Je mehr die Kompetenz von Friedfertigkeit in den Gesellschaften durch positive emotionale und soziale Prozesse in ihrer Resilienz (Krisenfestigkeit) entwickelt und gestärkt ist, umso weniger Wirkung und Verbreitung bekommen Aggression und Gewalt.
Dies bedeutet aber auch die Option, sich vor Aggression aktiv und physisch zu schützen und als Gesellschaft auf Angriffe vorbereitet zu sein, will man sich nicht dem Risiko der Aggression und Gewalt von Außen aussetzen. Denn Aggressoren setzen sich, wie wir mit dem Putin-Regime aktuell sehen, und das ist nicht das einzige tendenziell aggressive Regime, über Friedensabsichten, Menschenrechte sowie internationale Verhandlungen und Verträge egozentrisch und egoistisch hinweg, und legen ihre politische und militärische Überlegenheit als Einladung zu Terror, Invasion und Okkupation aus. Die Intention, der motivationale Antrieb zur sozialen Aggression ist Egoismus, Dominanz, Macht, Unterwerfung und ggf. Vernichtung, die sich mit diesem Ziel meist mit Zynismus selbst befriedigt und die Bedingungen auferlegt. Verhandlungen werden dabei vom Aggressor als Diktat verstanden und mit Täuschung, List und Lügen geführt. Verständigung, Kooperation und Gleichberechtigung erfordern soziale Kompetenz, die in der sozialen Aggression gerade nicht vorhanden ist.
Verständigung und Verhandlung sollten in Konflikten zwischen Menschen und Gesellschaften immer das bestimmende Element der Entstörung, Befriedung und Einigung sein. Auseinandersetzungen und Konfrontationen bedeuten immer Leid, Not und Zerstörung. Die zentrale Eigenschaft konstruktiver Verhandlung ist die Fähigkeit die eigene und zugleich die Perspektive der Anderen empathisch wahrzunehmen, realitätsbezogen zu interpretieren und in einen positiven Lösungskontext zu stellen.
Das Gelingen einer Einigung hängt von emotionalen, sozialen und kognitiven mentalen Kompetenzen der Beteiligten ab. Allerdings sind diese im Sinne von Verstand, Vernunft und Moral keine objektiven und bei allen Menschen in gleicher Weise vorhandenen mentalen Prozesse, sondern individuelle und subjektive mentale Möglichkeiten, die zudem systemischen Bedingungen (Gruppenerwartung und -zwang) unterliegen. Aggression, soziale Dysfunktion und identitärer imperialer Wahn können in Verhandlungssituationen, je nach Ausprägung unüberwindliche Hürden darstellen, über die die Beteiligten Klarheit haben müssen.
Die Frage, ob sich friedvolle Gesellschaften entmilitarisieren und sich im Zweifel dem Aggressor ergeben sollten, können wir mit dem Blick in die Geschichte beleuchten. Eroberungen waren meist mit Gewalt, Fremdbestimmung, Unterdrückung, Unterwerfung, Versklavung, Menschenverachtung, Entmenschlichung, Ethnoziden (Zerstörung kultureller Individualität und Identität) und Zwangskultivierung, Genoziden (Völkermord), letztlich der Vernichtung von Identitäten und Existenzen verbunden. Zudem erzeugen Aggressoren eine Kultur des Egoismus und der Aggression, die sich flächig entzünden, multiplizieren und die menschliche Zivilisation zerbrechen, deformieren, aufreiben kann.
Frieden ist mit sozial integrierter Selbstbestimmung, Solidarität und Freiheit verbunden und somit als weitfassende zivilisatorische Qualität schützens- und erhaltenswert. Wieviel Gesellschaften Frieden und Freiheit wert sind, sofern sie diese entwickeln konnten, bemisst sich in ihrer Entscheidung, sich trotz ihrer Friedfertigkeit auch durch physische Verteidigungsfähigkeit und –stärke, gegebenenfalls auch in aktiver Verteidigung zu schützen. Natürlich führt militärische Verteidigungsstärke und die dazu notwendige Aufrüstung der friedvollen Gesellschaften zu einem riskanten weltweiten Wettrüsten. Dies ist das Dilemma unserer kollektiven mentalen Dimension und damit unser zivilisatorisches Drama, solange wir unsere mentale Kompetenz Friedfertigkeit nicht hinreichend, vor allem nicht hinreichend global und notwendig synchron entwickeln können.
Wir können uns heute schon vorstellen, dass Frieden jenseits der aktuellen Konflikte und Kriege, die egozentrischen, identitären, narzisstischen und imperialen Motiven folgen, in den kommenden Jahrzehnten zu einem entscheidenden Faktor im planetaren Leben von uns Menschen zählen wird, wenn die Folgen der Klimakrise ihre Wirkung immer stärker zeigen. Es wird um Lebensräume, Ressourcen und Migration gehen und wie sich Gesellschaften in ihrer Resilienz (Krisenbewältigung) neben ökologischen, ökonomischen und technologischen Strategien, sozial, kulturell und politisch in diesen heraufziehenden Szenarien organisieren und verhalten.
Die Entwicklung der mentalen Kompetenz Friedfertigkeit wird einen entscheidenden Unterschied hinsichtlich Verständigung, Partizipation und Integration der Bedürfnisse und Interessen der globalen Community machen. Es wird um die Überwindung von Not, Leid und Tot durch Egoismus, Aggression und Gewalt, um die Erhaltung der bisher entwickelten zivilisatorischen Errungenschaften des Völkerrechts und der Menschenrechte, um sozial integrierte Selbstbestimmung, Solidarität und Freiheit, um die Gleichberechtigung und Inklusion personaler und kultureller Individualität und Identität, um demokratische Werte und schließlich um das Wohlergehen aller Menschen gehen.
Die Frage „Frieden! Geht das?“ können wir mit aktuellem Wissen über unser menschliches Mentalsystem, das unser gesamtes Erleben und Verhalten steuert, mit JA beantworten, vorausgesetzt, wir investieren in Mentale Bildung für die Entwicklung der Kompetenz Friedfertigkeit. Da diese Kompetenz in unseren Gesellschaften noch nicht hinreichend entwickelt ist, was uns die aktuellen Konflikte weltweit zeigen, können wir nicht auf den Faktor Sozialisation und natürliches Lernen setzen, sondern müssen uns durch Bildung und die Formung wirksamer Verständigungs- und Friedensbildungskonzepte dazu schnell und dringlich befähigen, als Einzelner und als globale Community.
Für diese Mentale Transformation durch Bildung wäre ein UN Mentalrat in Aquivalenz zum UN Klimarat hilfreich.
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