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Sensitivity means Diversity

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  • Beitrag zuletzt geändert am:15. April 2022

Verbunden mit der Welt

Es gibt Begriffe, die es „in sich“ haben, wie man so schön sagt. Damit ist gemeint, dass Begriffe für komplexe, tiefe oder schwierige Bedeutungen und Inhalte stehen. Sensitivity, ist ein solcher und steht für Empfindlichkeit, Empfindsamkeit, Feinfühligkeit, Feinsinnigkeit und Einfühlsamkeit. Wobei im Prinzip zwei Komponenten darin schwingen: Sensitivität, die differenzielle Ansprechbarkeit im Sinne von Empfindlichkeit und Sensibilität, die Aufnahmefähigkeit im Sinne der Feinfühligkeit gegenüber Signalen und Reizen, also Informationen.

Wenn man dieses Wort Sensitivity in seinem Geist dreht und wendet, um seine Begrifflichkeit 360grad zu erfassen und der Komplexität und Tiefe seines Bedeutungskontextes nachzuspüren, dann wird schnell klar, dass die Wirklichkeit dessen immer im Zusammenhang mit der Wahrnehmung und Verarbeitung von „Etwas“ steht. Meine Empfindlichkeit und Feinfühligkeit kann ich erst in der Wahrnehmung und Berührung von Informationen rsp. Objekten erleben. Sensitivity ermöglicht uns die mentale Verbindung mit unserer Welt in der wir leben.

Aber wozu verfügen wir über Sensitivity? Eine Betrachtung könnte sich auf das Erfassen und Bewerten von Informationen und Objekten beziehen, denen wir im Leben begegnen. Und, dieses differenzielle Wahrnehmen ermöglicht uns Orientierung, was die Dinge im Außen für uns bedeuten. Ist eine Situation sicher, kann ich dies oder das essen, was bedeuten andere Menschen für mich und mein Leben etc. Sensitivity erfüllt dabei die Funktion der differenziellen Wahrnehmung und Einfühlung, um Erfahrungen mit Informationen, Objekten, Mensch, Tier und Pflanzen zu ermöglichen. Die Erfahrung wiederum erfordert die Öffnung unserer Perspektive für Neues und Unbekanntes sowie die Bestätigung von Ähnlichem und Bekanntem.

Die Welt erfahren

Womit wir beim Thema Wahrnehmung, Empathie und Perspektivenwechsel sind, was Öffnung und Einfühlung hin zum Außen und seiner Ergründung bedeutet, um uns in der Welt bewegen, orientieren und entscheiden zu können. Nun ist es aber aus mentaler Sicht so, dass unser Geist keine 1zu1 Verbindung in der Informationsaufnahme und -verarbeitung mit dem Außen ermöglicht, sondern Informationen assoziativ und interpretativ auf Basis seines gespeicherten Wissens und Erfahrungen aufnimmt, geistig abbildet (repräsentiert) und daraus Hypothesen zu Bedeutungen und Sinnzusammenhängen des Wahrgenommenen konstruiert. Dabei bedient sich unser Geist zur Erleichterung der Erkennung, Zuordnung und Einordnung und zur schnellen Orientierung und Bewertung der Situation der Projektion generalisierter Muster.

Das heißt: Wir nehmen Informationen vom Außen möglichst differenziert auf, verarbeiten diese interpretativ und projektiv über bestehende Bedeutungsmuster. Ich sehe eine Schlange, die könnte giftig sein. Vielleicht kenne ich diese Schlangenart nicht, hatte auch keine Erfahrung mit dieser Art, aber ich weiß, es gibt ungiftige und giftige Arten, also projeziere ich auf die Schlange, die ich sehe die Möglichkeit, sie könnte giftig sein und verhalte mich vorsichtig.

Diese Mustererkennung und Projektion kennen wir als „Stereotype“ in Form von sich wiederholenden relativ unbewussten, verfestigten, nicht objektiven, schematischen Zuschreibungen vermeintlich typischer Merkmale gegenüber Personen und sozialen Gruppen sowie „Vorurteilen“ in Form von Urteilen und Haltungen gegenüber einem Sachverhalt, einer Situation oder Menschen vor einer gründlichen Untersuchung, Abklärung und Abwägung in unserer Vorstellungs- und Bedeutungswelt.

Bei der Mustererkennung, wie bei allen kognitiven Prozessen bildet Sprache, die Codierung von Unterscheidungen und Bedeutungen in Worten, Bildern und Geschichten eine notwendige Basis. Sie ermöglicht die mentale Verarbeitung von sensitiv aufgenommenen Informationen in der notwendigen Differenzierung, um die Welt in unserer Vorstellung begreifbar zu machen. Gleichzeitig prägt Sprache in ihren Wort- und Bildbedeutungen sowie logischen Sinnzusammenhängen unser Denken und unsere Projektionsmuster in einer Art selbstsuggestiven Eigendynamik: Wir denken in unseren sprachlich codierten Bedeutungen und bestätigen diese durch ihre Nutzung in der Projektion und drehen uns so in unserem Bedeutungskontext um die eigene Achse.

Sensitivity ist also mental eng mit Sprache, ihren Worten, Bildern und Geschichten sowie Stereotypen und Vorurteilen verknüpft, die in unseren Köpfen schon durch die Sozialisation konditioniert sind und durch ihre Nutzung und Wiederholung kontinuierlich bestätigt und darüber verfestigt und verstärkt werden. Gleichzeitig werden die in unserem Wissen und Denken geprägten Bedeutungen und Sinnzusammenhänge (Frames) über die Öffnung des Geistes für neue Erfahrungen in der Welt sowie über den Informations- und Meinungsaustausch mit anderen Menschen in der sozialen Interaktion, insbesondere in Verbindung mit empathischem Perspektivenwechsel je nach individueller kognitiver Modifikationsvoraussetzungen aktualisiert.

Vielfalt erleben

Im mentalen Alltagsmodus sind wir uns unserer sprachlichen Codierung, Interpretation und Projektion in Verbindung mit der Außenwelt nicht bewusst und identifiziert mit unserer konditionierten Vorstellungswelt in der auch Stereotype und Vorurteile aktiv sind. Allerdings schränkt dieser meist unbewusste und automatisiert ablaufende mentale Prozess unsere Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt erheblich ein, führt uns unter Umständen auf falsche Fährten und lässt uns das eine oder andere Mal nicht dienliche Schlüsse ziehen.

In der Konsequenz heißt das, wir entwickeln im Laufe unseres Lebens durch Sozialisation und Erfahrung ein generalisiertes Welt-, Menschen- und Selbstbild, worin sich sprachliche Codierungen, stereotype Erkennungs- und Bewertungsmuster sowie Vorurteile befinden. Wir sind uns darüber in der Regel nicht bewusst, vor allem nicht, wie sie unser Leben und das der anderen Menschen durch unsere Interpretationen und Projektionen beeinflussen, günstig oder ungünstig.

Stereotype und Vorurteile anderen Menschen gegenüber, wegen ihrer Erscheinung oder Geschichte, die sich auch generell in unserer Sprache, unseren Einstellungen, Meinungen, Haltungen und Verhalten niederschlagen, bedeuten etwas im individuellen gesellschaftlichen Kontext. Spürbar wird dies, wenn es mit Negativerfahrung auf Seiten der Betroffenen verbunden ist. Das kann von der Frage sozialer Anerkennung und Integration, über Skepsis und Ablehnung, bis hin zu Ausgrenzung und Gewalt gehen, was bei den Betroffenen eine ständige Erfahrung von Stress, Angst und Leid erzeugt. Wir müssen nicht Alles und Jeden gut finden und mögen, aber wir haben Wirkung auf andere Menschen. Dessen können wir uns bewusst sein und werden.

Unser Geist reduziert über Mustererkennung, Interpretation und Projektion Komplexität. Das hat seinen wichtigen Grund. Er verfügt aber auch über das Korrektiv in Form selbstwahrnehmender, reflektierender Achtsamkeit, ein- und mitfühlender Empathie anderen Menschen gegenüber, die durch unsere Projektionen und Handlungen negativ betroffen sein können. Und, wir haben mental die Modulationsfähigkeit dies zu erkennen und zu korrigieren.

Sensitivity positiv leben

Die Welt, von der wir Menschen Teil sind, ist Vielfalt. Diese zu erleben und ihr gerecht zu werden, dafür dient uns unsere Fähigkeit der „Sensitivity“. Deshalb macht es Sinn uns unsere mentalen Vorgänge bezüglich unserer Interpretation, Projektion und Identifikation regelmäßig zu vergegenwärtigen und unsere Sprache, Vorstellungen, Einstellungen, Meinungen und Verhalten zu überprüfen und zu aktualisieren. Sensitivity und Diversity sind zwei Seiten einer Medaille. Es lohnt sich für unser aller Gutes Leben auf unsere Beziehung und unser Verhalten zur Vielfalt der Welt genauer zu schauen.

Dies tut Victoria Linnea mit ihrer Initiative Sensitivity Reading. Sie hat sich auf den reflektierten Umgang mit Diversity in Geschichten und Literatur spezialisiert und unterstützt Autor:innen ihre Geschichten inklusiv und vorurteilsfrei zu erzählen. Eine große zivilisatorische Leistung, denn unser Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Handeln wird in unserer Sozialisation durch Geschichten, die uns Menschen erzählen, die wir über Medien und Literatur aufnehmen fundamental geprägt. Sie erzeugen die Brille, durch die wir die Welt ein Leben lang sehen.

Im Podcast „Diskriminierung ist in uns allen drin“ des Deutschlandfunk Nova gibt Victoria Linnea Einblick in die Welt des Sensitivity Readings. Wie sie von ihrer Arbeit spricht, lässt uns die Herausforderung spüren, die in der Anerkennung und dem aufgeklärten positiven sprachlichen Umgang mit Vielfalt liegt. Sehr erhellend und empfehlenswert.

Hier geht es zur Sendung