Warum sich Gedanken machen?
Unsere Gesellschaft lebt davon, dass sie funktioniert. Du wirst sagen, toll die Feststellung, aber das ist und war doch immer klar. Das ist keine Neuigkeit, warum sollte ich mir darüber Gedanken machen. Oh, doch, sollten wir uns ernsthafte Gedanken dazu machen. Denn in diesem „Funktionieren“ arbeiten fundamentale und existentielle Welt- und Menschenbilder in unserer Gesellschaft, die wir in der Regel weder als Individuum, noch als Kollektiv hinreichend wahrnehmen, geschweige denn reflektieren und auf ein aufgeklärtes Niveau anpassen.
Eine der Funktionsebenen unserer Gesellschaft wird als „systemrelevante Berufe“ bezeichnet, die unser kollektives Leben gewährleisten. Wie der Begriff „systemrelevant“ auch zum Ausdruck bringt. Während der frühen Covid 19 Pandemie lenkte sich das Licht der Öffentlichkeit auf das medizinische Personal der Krankenhäuser, in denen die schwer erkrankten Covid 19 Patienten eingeliefert und intensivmedizinisch behandelt wurden. Kurz darauf klatschten die Menschen von den Balkonen während des Lockdowns, um ihre Wertschätzung für den engagierten aufopfernden Einsatz des Krankenhauspersonals zum Ausdruck zu bringen. Plötzlich war sich die Gesellschaft der Bedeutung dieser Menschen in den Kranken- und Pflegeberufen bewusst. Man versprach ihnen sogar Prämien und die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen.
Unser Welt- und Menschenbild hinterfragen
Allerdings zeigt diese besondere Form der Wertschätzung und das Versprechen der Verbesserung der Bedingungen und Entlohnung unter welchen Umständen das Krankenhaus- und Pflegepersonal in den Alten- und Pflegeeinrichtungen arbeitet. Dass die Bedingungen und die Entlohnung den Aufgaben und Belastungen nicht angemessen sind, dahinter stehen gesellschaftlich akzeptierte Welt- und Menschenbilder. Diese betreffen aber nicht nur Pflegeberufe, sondern eine Vielzahl von Berufen in Produktion und Dienstleistung wie Beschäftigten in Supermärkten, in der Paketzustellung, im Einzelhandel oder Gebäudereinigung, um nur einige aufzuzählen. Es hat sich ein sehr unschöner Begriff eingebürgert, der fast schon mit Selbstverständlichkeit verwendet wird, ohne sich bewusst zu machen, was dies für die Betroffenen bedeutet, solange man selbst nicht dazu zählt, der Begriff des Prekariats. Geringverdiener, Unterprivilegierte, Abgehängte etc. zählt man dazu, auch die gesellschaftliche Mitte, wenn sie die guten Jobs mit hohem Einkommen verliert. Der Begriff ist keineswegs mit sozial schwach zu kennzeichnen.
Was hat nun das Welt- und Menschenbild damit zu tun. Wir alle tragen, ob wir es so verstehen oder nicht und ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht ein Welt- und Menschenbild in uns, das wir durch unsere Sozialisation erworben haben. Weltbild besagt: Das ist die Vorstellung mit der wir uns die Welt erklären. Menschenbild besagt: Das ist die Vorstellung mit der wir uns den Menschen erklären. Welt- und Menschenbilder werden transgenerational gebildet und über die Sozialisation vermittelt. In unseren aktuellen Bildern steckt noch eine ganze Menge mittelalterliches Denken, von Oben und Unten, von Wert und Unwert, von Recht, Status, Macht und Verdienst. So wird Oben und Unten sowie Kopf- und Handarbeit unterschiedlich bewertet und entsprechend mit Bedingungen ausgestattet, gewürdigt, geringgeschätzt oder gar abgewertet und entlohnt. Studium und Lehrberuf definiert sich in Oben und Unten, geschweige denn angelernte Tätigkeiten, die in einer Großzahl die Wirtschaft am Laufen halten.
Eltern versuchen ihre Kinder frühest möglich auf die Spur zu „besseren“ Bildungs- und Berufschancen zu setzen, damit sie möglichst privilegiert arbeiten und leben können. Alle streben nach Wertschätzung, Status, Reichtum und Macht. Keiner möchte unterprivilegiert arbeiten und leben und dennoch gilt dies in Bezug auf Bildungs-, Berufs- und Einkommensfragen für eine große Zahl von Menschen in unserer Gesellschaft. In unaufgeklärten Kreisen wird von der Höherwertigkeit kognitiver gegenüber sozialer, handwerklicher oder mechanischer Leistungen ausgegangen. Dafür gibt es im Organismus Mensch und seinem Mentalsystem keine Entsprechung. Kognitiv ausgerichtete Arbeit, wird vom Gehirn in gleicher Weise erledigt wie z. B. soziale Arbeit. Es werden lediglich unterschiedliche Neuronale Areale aktiviert, die jeweils für diese Funktionen durch Lernprozesse neuronal verschaltet werden müssen. Auf der organischen und neuronalen Ebene gibt es kein Oben und Unten. Nur der konditionale unaufgeklärte Geist wiederholt transgenerationale sozial konstruierte Bewertungen.
Nun könnte man sagen, ja aber ein Architekt plant ein Haus und der Lagerarbeiter bei einem Versandunternehmen schiebt ein paar Kisten hin- und her. Das ist doch ein unterschiedlicher Wert, der bei der Arbeit entsteht. Ja, aber das sagt nichts über den organischen und neuronalen Prozess der bei der Arbeit aktiv ist, und der unterscheidet sich nicht in Wertigkeit, sondern lediglich in der Aktivität verschiedener Areale und des physischen Körpers. Und, dafür müssen möglichst optimale und gleichberechtigte Bedingungen der Arbeit, der psychologischen Wertschätzung und der Entlohnung gelten. Aus der Erfahrung wollen Privilegierte aber diese Einschätzung nicht teilen, denn es würde ihre liebgewonnenen Privilegien sowie ihr Selbstbild etwas Besseres zu sein in Frage stellen. Es wird dabei durchaus mit egozentrischen und narzisstischen Einstellungen argumentiert, dass man ja schließlich intelligenter, gebildeter und kultivierter ist etc. einfach mehr Wert ist. In liberalen und konservativen Interessensgruppen wird von Aufstieg und Aufstiegschancen z. B. durch Bildungsangebote gesprochen. Nur, das beinhaltet, wo Aufstieg ist, ist Oben und wo nicht Oben ist, ist Unten. Das ist keine Lösung solange unterprivilegierte Tätigkeiten, die die Wirtschaft am Laufen halten keine gleichberechtigten und sozial gerechten Bedingungen und Entlohnung erfahren.
Gleichberechtigung und Soziale Gerechtigkeit
Um das privilegierte Leben zu erklären und zu rechtfertigen wird von „Leistungsträgern“ der Gesellschaft und von „Leistungsbereitschaft“ gesprochen. Unter privilegierten Kreisen werden darunter Positionen mit hohem Status, Macht und Entlohnung und vor allem mit Reichtum verstanden. Der Begriff Leistungsträger beinhaltet in seiner Bedeutung automatisch das Gegenteil die Nicht-Leistungsträger, womit die letzten Jahrzehnte alle Menschen, die die Attribute der Leistungsträger nicht aufwiesen selbstredend etikettiert waren, insbesondere in prekären Verhältnissen. Die Menschen wurden individuell für ihre Situation verantwortlich gemacht, strukturelle und systemische Bedingungen wurden in der politischen Rhetorik vor allem der marktliberalen und konservativen Kreise wohlweislich verschwiegen. Es zählt zu unseren unbewussten, unreflektierten und leider auch unaufgeklärten gesellschaftlichen Hypotheken, dass moderne Demokratien ungleiche Arbeits- und Entlohnungsbedingungen nicht in einer angemessenen gleichberechtigten und sozial gerechten Weise diskutiert und anpasst.
Die Diskussion um systemrelevante Berufe und „Wer die Republik wirklich am Laufen hält“ ist mehr als notwendig und berechtigt. Einen interessanten Beitrag hierzu kannst Du im Podcast Lesart des Deutschlandfunk Kultur hören: